Freitag, 11. November 2011

Bis der Wind sich dreht

.. war ursprünglich ein Projekt für einen Literaturwettbewerb, den ich aber nie verschickt habe.

Bis der Wind sich dreht

Rumms – da fällt die Tür ins Schloss. Auch wenn es hier oben noch zu hören ist, so erschrecke ich mich seit langem nicht mehr, wenn das eingefasste Glas unter dem Knall nachvibriert. Nach großen und vor allem lauten Worten, entfernen sich die Schritte und die Haustür wird zugeschmissen. Wie heute ist  es meistens das Wochenende, das diese Art der Kommunikation mit sich bringt. Meine Mutter ist gegangen. Vielleicht hat sie die Hunde mitgenommen auf dem Weg zum örtlichen Kiosk, um frische Luft zu schnappen, einen Kaffee zu trinken und darüber zu klagen, dass der Mann, der nun alleine im unteren Teil des Hauses wüten kann, sie nicht versteht. Sie wird ihren Kaffee trinken, vielleicht auch zwei und schließlich wieder nach Hause kommen. Immer noch wütend, aber ruhiger als zuvor. Dann werden die beiden sich aus dem Weg gehen, zumindest bis sie sich zum Abend wieder das Schlafzimmer teilen werden. Er wird ihr nicht sagen, dass es ihm Leid tut, er wird nur beteuern, dass er ein Blödmann ist. Aber das wird ihr nicht reichen und frustriert über all das werden sie beide schlafen und am nächsten Morgen aufwachen und frühstücken, als sei nichts gewesen. Jedoch mit diesem kleinen Rest an Groll, den beide füreinander hegen. Zumindest bisher ist das immer in diesem Schema abgelaufen. Nur heute nicht. Heute soll ich nicht einfach allein hier oben bleiben und mein Mitgefühl an meine Mutter weiterreichen, für mich in Gedanken. Nein, der Mann, mit dem wir hier zusammenleben, kommt die  elf Stufen zu meinem Zimmer hoch und setzt sich zu mir auf die Couch. Ich habe diesen beißenden Geruch direkt in der Nase, und damit weiß ich auch, warum sie gestritten haben. Seine Neigung zum Alkohol und die Unfähigkeit, sich darin Grenzen zu setzen und auch daran zu halten. Ich bin mir sicher, dass, egal was ich sagen oder tun werde, es von einem Ohr zum anderen wieder hinausgehen wird. Und auch morgen früh wären meine Bemühungen ihm zuzureden vollkommen nichtig und vergessen. Dennoch greife ich just zu meiner Tasse Tee und sehe ihn an. Ich sage kein Wort, lasse ihn zur Ruhe kommen, denn eigentlich ist er noch nie nach einem Streit unter den beiden hier hoch zu mir gekommen. Ich bin gespannt, ob er hier her kommt um auch wortlos wieder zu gehen oder ob er reden will. Der Alkohol löst ihm die Zunge und Dinge die er denkt, aber nie sagen würde, werden gesagt. Dinge die andere verletzen und längst kein Teil mehr der Höflichkeit sind. Der Moderator im Fernseher kündigt ein neues Highlight an, aber meinen Blick kann ich nicht von diesem Menschen abwenden, der bei mir versucht Trost zu finden, statt in sich selbst hineinzuhorchen, wie es überhaupt jedes Mal dazu kommen kann.

Meine Mutter und ich waren vor einigen Monaten neu in diese Gegend gezogen. Über einen gemeinsamen Freund, lernte sie schließlich diesen altbackenen Dachdecker aus dem Nachbardorf kennen. Ohne es damals wirklich zu ahnen, entwickelte sich nach und nach eine gemeinsame Sympathie, die es erlaubte, dass die beiden sich näher kamen. Zuerst war es nur ein Kaffee, dann die gemeinsamen Abendessen fast jeden Tag in der Woche und das Wochenende verbrachten sie stets gemeinsam. Trotz der Liebe, die beide füreinander empfanden, offenbarten sich schnell einige Probleme, die noch zu tief in beiden saßen und jetzt erst zum Vorschein kamen. Vor zwei Jahren etwa verlor er seine Frau durch einen Autounfall bei dem sie ihren Sohn, seinen Stiefsohn, zurückließ und ihn natürlich auch. Seinen Kummer, obwohl die Ehe nach eigenen Aussagen mehr schlechte als gute Seiten gehabt hatte, ertränkte er im Alkohol. Sein verdientes Geld wurde bei jungen Huren im Bordell gelassen. Um Ablenkung zu suchen, schrieb er sich im Kegelclub des Ortes ein und spielte einmal im Monat dort. Er traf Freunde, die von seiner Situation wussten, jedoch auch nie den Versuch unternahmen, ihm aus diesem tiefen Loch wieder herauszuhelfen. Da sein Stiefsohn studierte, war dieser nur über das Wochenende im Haus. Beide kamen nie dazu, das Geschehende irgendwie zu verarbeiten. Beide lebten nur nebeneinander her, weil sie keine Wahl hatten. Er sah in dem Jungen etwas, das ihm von seiner verstorbenen Frau geblieben war, und der Stiefsohn sah in seinem Stiefvater nur noch das, was der Alkohol aus ihm gemacht hatte. Diese Geschichte, teils von ihm selbst erzählt, erfuhr man jedoch in einer anderen, subjektiveren Sichtweise von seinen Bekannten und dann lehrte er seine Geschichte persönlich, indem er sie nicht los ließ und immer noch lebte. Natürlich sahen wir, dass der Tod eines geliebten Menschen ein schwerer Schicksalsschlag war, dennoch konnten wir nicht das Verständnis mehr dafür aufbringen, weil er nie versucht hatte, dieses Erlebnis zu verarbeiten. Nun hatte er in meiner Mutter eine neue Liebe, eine bessere Zukunft gefunden, dennoch änderte sich nicht viel. Wir gaben unser kleines Häuschen am See auf um zu ihm und seinem Stiefsohn, in deren Haus zu ziehen. Er baute den Trockenraum über der Waschküche aus, damit ich dort mein Zimmer gestalten konnte. Er versuchte eine Menge, um uns ein besseres Leben als zuvor möglich zu machen, aber das eigentliche Problem wurde mit Farbe und neuem Teppich nicht gelöst. Vieles wurde zum Streitthema. Der Stiefsohn, der glaubte meine Mutter solle seine ersetzen, und ihr neuer Freund, der in meiner Mutter ebenfalls seine verstorbene Frau sah. Es war wieder eine Frau im Haus, die kochte, die das Haus und das Grundstück sauber hielt. Doch wenn es eine typische Hausfrau gäbe, so würde meine Mutter niemals in dieses Raster fallen und sie tat es eine Zeitlang doch, bis sie einen neuen Job bekam. Und dann wurden die anfänglichen Probleme erst laut.

Es ist nicht das erste Mal, dass man nach einem Streit getrennte Wege geht, sich beruhigt, jeder auf seine eigene Art und Weise. Es wird auch nicht das letzte Mal gewesen sein, dass man bei dem gemeinsamen Abendessen die Tränen in den Augen sehen kann, dass man den Tisch ohne gefüllten Magen verlässt, weil einem der Hunger vergangen ist. Und gewiss werden die Wände hier noch einige laute Worte mitbekommen, bevor eine Ruhe eintreten wird - bevor man gelernt hat miteinander zu reden und nicht einander vorbei. Und dann wird auch die Haustür nicht mehr allzu oft zugeschlagen werden. Doch wann wird dieser Wendepunkt in unserem Leben eintreffen? Diese Frage muss ich mir gerade selbst stellen und ich finde keine Antwort, denn auch wenn ich mit unter diesem Dach lebe, so sind es doch nur die beiden, die lernen müssen einander die Herzen zu öffnen und auch jemanden hineinsehen zu lassen. Er sitzt immer noch auf der Couch und hat bisher kein Wort von sich gegeben. Er hat tief eingeatmet und mir die Hoffnung gegeben, wirklich etwas anzusprechen, aber ich werde erneut enttäuscht. Sein Blick liegt auf dem Fernseher und erst als ich ihn leiser stelle, scheint er darauf zu kommen, dass mir sein Schweigen auf diese Art und Weise unangenehm ist. Er sagt, er sei ein riesen Idiot und er habe mal wieder Mist gebaut, was ich in dem Sinne, ohne es wirklich zu wissen, nur bestätigen kann. Aber er ist nicht hier hoch gekommen, um bestätigt zu werden. Wie der Alkohol vorhin schon seine Zunge gelockert hat, so scheint es hier oben damit weiterzugehen. Ich habe ihn bisher noch nie so erlebt, dass er fast liebevoll spricht. Von einem sonst eher reservierten Anti-Romantiker erwarte ich eigentlich auch nicht viel, aber es hat mich überrascht. Er ist in seiner Erzählung zeitweise den Tränen nah. Er liebt sie, er weiß selbst auch nicht, warum er nicht lernt sich zu zügeln. Während meine Mutter damit beschäftigt ist, wieder nach Hause zu kommen und die Immobilienanzeigen zu studieren, habe ich hier oben die Zeit, ihn über einige Dinge aufzuklären, die sie niemals aussprechen wird. Er ertränkt seinen Kummer, seine aufgestaute Unstimmigkeit ihr gegenüber im Alkohol und lässt es anschließend in einem Wisch heraus. Und sie baut eine Mauer auf und lässt gar niemanden an sich heran. Die Lösung liegt schon länger auf der Hand und ist ebenso simpel wie kompliziert: die beiden müssen nur lernen miteinander zu reden und zwar sofort. Und nicht nur heute sondern auch in der Zukunft muss jedes Problem, das auftritt, besprochen werden. Nicht nur die Zukunft liegt damit in einem sicheren Hafen. Die nicht gelöste Vergangenheit wird sich damit auch, Knoten für Knoten, stetig mehr entwirren. Ich sage ihm, dass es für die Zukunft keinen Platz gibt, wenn die Vergangenheit herrscht. Ich sage ihm auch, dass diese Art Auseinandersetzung sich niemals einstellen wird, wenn die beiden nicht lernen auf einander zuzugehen wie zwei erwachsene Menschen und nicht wie zwei Kinder, die nie gelernt haben mit Konflikten umzugehen. Ein ewiges Weglaufen wird nicht helfen. Früher oder später muss man sich stellen, aber wenn man es sollte und nicht tut, dann wird auch der nächste Fehler dafür sorgen, dass man wieder wegrennt. Wenn man sich freiwillig stellt und das nicht erst viele Tage später wenn überhaupt, dann wird es leichter sein auch mal an sich selbst zu arbeiten und zu begreifen,  dass reden gar nicht so schlimm ist und dass es viele Probleme löst. Wer Hilfe braucht und bereit ist auch welche anzunehmen, wird kaum einen Menschen finden, der ihn liebt, aber ihm nicht helfen will. Zwei Stunden reden wir miteinander bevor ich ihn bitte dies auch mit meiner Mutter zu tun, ihr zu sagen, was er mir gesagt hat. Es wird seine Worte, seine Taten so weiß ich, nicht entschuldigen, aber es wird ein erster Schritt sein. Er bittet mich, mit hinunter zu gehen, wie ich es angeboten habe, und dann sitzen wir da und versuchen alle drei den Kern noch mal zu erhaschen. Ich weiß nicht, wie oft ich mich wiederholt habe an diesem Abend, aber ich bin der Hoffnung, dass es sich  beiden dann besser einprägen wird. Doch diese Hoffnung wird abermals zerschlagen, als er am nächsten Morgen zwar noch weiß, dass wir miteinander geredet haben, er sich wohl aber nicht daran erinnern will, was wir besprochen haben. Geduld wird abermals das Ziel sein, damit das Blatt sich wendet. Und bis dahin wird der Spruch weiterhin nur etwas Dahergesagtes bleiben, wie es heißt: „Es gibt nur zwei schwierige Sätze im Leben die man nicht so einfach aussprechen kann. Ich liebe dich und Es tut mir leid.“

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